III (2024)
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Doch der Reihe nach. Nach ihrem Live-Album „Live At JazzBaltica 2021“ mussten Saxofonist Christoph „Cito“ Kaling, Keyboarder Arne Dreske, Bassist Jonas Holland-Moritz und Schlagzeuger Hannes Dunker den Ausstieg von Geigerin Rebecca Czech hinnehmen. Sollte man nach dem zunächst schmerzlichen Verlust nun nach einer neuen Geigerin Ausschau halten, um die Leerstelle passgerecht auszufüllen? Oder würde vielleicht ein anderes Instrument einen neuen Akzent setzen? Die vier Überzeugungstäter entschieden sich für einen anderen Weg. Sie überdachten ihr gesamtes Bandkonzept und gingen konsequent über Start.
„III“ ist ein radikaler Neuanfang, ohne die auf dem bisherigen Weg erlangten Kernkompetenzen aus der Hand zu geben. Vier Individualisten, die aus der Gegensätzlichkeit ihrer persönlichen Erfahrungen, Vorlieben und Arbeitsweisen einen logischen Fluss der Ereignisse destillieren, der sich am Ende über jede Definition hinwegsetzt und stets zu anderen Zielen führt, als am Anfang anvisiert. Ohne es in dieser Weise geplant zu haben, ist Evelyn Kryger ein monumental anmutendes Gesamtwerk gelungen, ein epischer Klangfilm, der Züge eines Konzeptalbums trägt. Dabei ergaben sich Dramaturgie, Ablauf und Klangregie erst während der unmittelbaren Arbeit an dem Album.
Nur das Casting erfolgte unter genau festgelegten Kriterien vor Beginn der Produktion, und das ist der entscheidende Unterschied zu allen bisherigen Alben der Band. Denn man setzte diesmal nicht auf eine feste Besetzung, die auf dem kompletten Album zu hören ist und dann auch so auf Tour gehen würde, sondern umgab sich mit einer variablen Schar von Gästen, die in den unterschiedlichen Songs für individuelle Timbres und Schattierungen, Spannungsmomente oder Richtungswechsel sorgten. Gitarrist Omar Gudjonsson, bestens bekannt von der isländischen Postrock-Band ADHD, schwebte den Jungs von Evelyn Kryger schon lange als Gast vor. Ungewohnte vokale Akzente setzt die brasilianische Rapperin Laíz, die den Flow und die Dringlichkeit des HipHop mit der Power und Wucht lateinamerikanischer Rhytmen verbindet. Trompeter Tom Trabandt und Saxofonist Richard Häckel kommen wie Evelyn Kryger aus der Jazzszene von Hannover. Zur rhythmischen Pointierung trägt der venezolanische Perkussionist Nené Vásquez bei. Zu guter letzt soll im Gesamtbild von Evelyn Kryger auch der vertraute Sound der Geige nicht fehlen. In dem Amerikaner Roland Satterwhite, der unter anderem in der Berliner Jazzrock-Band Tolyqyn spielt, fand man die passende Stimme.
Viele Namen, doch hier geht es nicht um Masse, sondern um Passgenauigkeit. Denn – und das ist die große Leistung von Evelyn Kryger – keiner dieser Beiträge klingt wie ein Gimmick oder ragt aus dem Sound des Albums besonders heraus. Jeder fügt sich in den logischen Strom des Gesamtkonzepts ein, als wäre er schon immer Bestandteil der Band gewesen. Ein höheres Maß an Integrationsfähigkeit ist kaum vorstellbar, als wäre die Band das Tal und die Gäste der Fluss, der durch das Tal hindurchfließt. Evelyn Kryger arbeitet bewusst mit Gegensätzen, die jedoch stets zur Einheit geführt werden. Keiner der Songs ist in diesem Kontext auch nur ein My anders vorstellbar, als er hier zu Gehör gebracht wird.
Entsprechend groß wie die Besetzungsliste ist auch die stilistische Vielfalt der CD. Das Spektrum reicht von Jazz- und Progrock, über soundtrackartige Passagen, Popanleihen, Latin Grooves, folkloristische Färbungen bis zur Präzision und Dichte der Klassik und der losgelösten Offenheit des Jam Rock. Grenzen zwischen diesen Momenten gibt es nicht. In jedem Song ergießt sich ein neues Füllhorn von wundervollen Melodien. Ähnlich wie in den besten Momenten von Return To Forever, der Pat Metheny Group, Nils Petter Molvaer oder ADHD fließen all diese Einflüsse und Hintergründe zu einem harmonischen Ganzen zusammen, das keiner Kategorisierung mehr bedarf. Denn Eines wird vom ersten Ton an klar und zieht sich bis zum letzten Takt: Dies ist immer und ausschließlich ein Statement von Evelyn Kryger. Dabei kommt der Band eine Besonderheit zugute, die Saxofonist Cito Kaling schon anlässlich des letzten Albums „Live At JazzBaltica 2021“ wie folgt formulierte: „Wir sind eine Band von Individualisten, die trotzdem einen sehr homogenen Bandsound hat. Wir alle bringen unsere Instrumente aus dem Jazz mit, ohne wirklich wie eine Jazzband zu funktionieren. Unsere Charaktere und persönlichen Spielweisen verweben sich innerhalb der Band zu einem gemeinsamen Klang.“
Fernab jeder wie auch immer umrissenen stilistisch-musikalischen Festlegung wirkt „III“ wie ein Film. Stimmen werden zu Charakteren, Songs zu Szenen eines Plots mit offenem Ausgang, Sounds zu Kulissen, Grooves zu Leitplanken von Handlungssträngen. Man sitzt gebannt im imaginären Kinosessel und folgt der narrativen Bilderwelt, die Evelyn Kryger vor dem sehenden Ohr entfesselt. Jeder Farbtupfer, jeder Taktschlag, jede Note und jedes gesungene Wort ergeben in dieser Welt der überbordenden Eindrücke Sinn. „III“ ist groß, doch es muss genau so groß sein, um diese überwältigende Wirkung zu erzielen. Zum finalen audiovisuellen Effekt des Albums trägt auch das von der Hannoveraner Künstlerin Anna Abramovich gestaltete Cover bei, das als Pentagon unabhängig von der Musik schon für sich ein Kunstwerk bildet.
Vorsicht vor Superlativen, aber das mit „III“ betitelte vierte Album von Evelyn Kryger ist eine der komplettesten musikalischen Kostbarkeiten der letzten Jahre. Das ist nicht einfach eine Studioproduktion, sondern im allerbesten Sinne eine Aufführung. Ohne hier weiteres Namedropping betreiben zu wollen, braucht es keinen Vergleich mit den ganz großen Konzeptalben der Rock- und Jazzgeschichte zu scheuen. Wenn wir an dieser Stelle das kulturelle Spielfeld wechseln wollen, dann hat sich Evelyn Kryger mit „III“ für die Champions League qualifiziert.
Text: Wolf Kampmann
pressinfo english
Everyone knows that less is more. At least most of the time. Far less well known and perhaps somewhat less popular, however, is the acknowledgement that sometimes more can indeed be more. With their new album entitled III, the quartet band Evelyn Kryger, whose members hail from Hanover, Cologne, and Hildesheim, shows with bravura that you can bring everything you’ve got into a project and end up with even more than you thought you would. And that’s a good thing.
But first things first. After the band’s previous album Live at JazzBaltica 2021, saxophonist Christoph (Cito) Kaling, keyboardist Arne Dreske, bassist Jonas Holland-Moritz, and drummer Hannes Dunker had to accept the departure of the band’s violinist Rebecca Czech. After the initially painful loss, the band members contemplated looking for a new violinist who could appropriately fill the void. They also considered the option of introducing a different instrument that could create a new accent. In the end, the four resolute men decided to follow a different path: They chose to redefine their entire band concept.
As such, although the album III heralds a radical new beginning for the band, the core competencies acquired during the band’s history were not abandoned. Four individualists, with contrasting personal experiences, preferences, and ways of working distill a logical flow of events that eludes definition and always leads to goals different from those imagined at the beginning. Without having planned it in this way, the band Evelyn Kryger has succeeded in creating an impressive, monumental oeuvre, an epic soundtrack bearing the characteristics of a concept album. The dramaturgy, sequencing, and sound direction only emerged during the immediate work on the album.
However, for this album, casting was fixed according to exactly defined criteria before production began, which represents a significant difference from the band’s previous albums. The band chose not to use a fixed line-up of musicians that would be heard on the entire album and then also go on tour. Instead, the band invited contributions from a variable assembly of guest musicians, who provided individual timbres and shadings, moments of tension, or changes of direction in the various songs. These guests included guitarist Omar Gudjonsson, best known from the Icelandic post-rock band ADHD and who the Evelyn Kruger band had wanted to invite as a guest for a long time. Unusual vocal accents were set by Brazilian rapper Laíz, who combined the flow and urgency of hip-hop with the power and force of Latin American rhythms. Trumpeter Tom Trabandt and saxophonist Richard Häckel, like Evelyn Kryger, come from the Hanover jazz scene. The Venezuelan percussionist Nené Vásquez contributed to the rhythmic emphasis. Last but not least, the familiar sound of the violin is not missing in the overall composition of Evelyn Kryger. The band found the right voice with American Roland Satterwhite, who among other things, plays in the Berlin jazz rock band Tolyqyn.
Although the album’s lineup boasts many names, the selection was not based on absolute numbers. It was more important to find the right fit. Indeed, Evelyn Kryger’s great achievement here is that none of the individual artists contributions sounds gimmicky or conspicuously stands out from the whole sound of the album. Each fits naturally into the logical flow of the band’s general concept, as if each guest artist had always been part of the band. A higher level of integration is hard to imagine: It is as if the band were a valley, and the guests the river flowing through it. Evelyn Kryger consciously works with opposites, but these have always led to a unified harmony. In this context, none of the songs can be thought of a showcase of a particular artist’s talents that would jeopardize the ambition to create a whole sound.
The stylistic diversity on this album is just as large as the line-up list. The variety of styles ranges from jazz to progressive rock, embellished with soundtrack-like passages, pop borrowings, Latin grooves, and folkloristic nuances. Listeners will hear the precision and density of classical music and the detached openness of jam rock. There are no boundaries between these moments. In each song, a new cornucopia of wonderful melodies pours forth. Similar to the best moments of Return to Forever, the Pat Metheny Group, Nils Petter Molvaer, or ADHD, all these of these musical influences and backgrounds flow together into a harmonious whole that no longer needs categorization. One thing becomes clear from the first note and continues to the last bar: This is undisputedly and exclusively a statement from Evelyn Kryger. The band benefits from a special quality that saxophonist Cito Kaling already described on the occasion of the band’s previous album Live at JazzBaltica 2021s: “We are a band of individualists that nevertheless has a very homogeneous band sound. We all bring our instruments from jazz without really functioning like a jazz band. Our characters and personal playing styles weave together within the band to create a common sound.”
Escaping a strict stylistic-musical definition, III seems like a film. Voices become characters, songs become scenes of a plot with an open end, sounds become backdrops, grooves become guardrails of storylines. The listener becomes spellbound in an imaginary cinema seat and follows the narrative world of images that Evelyn Kryger unleashes before the “seeing” ear. Every splash of color, every beat, every note, and every sung word makes sense in this world of overflowing impressions. III is big, but it needs to be precisely so big to generate its overwhelming effect. The album’s ultimate audiovisual effect is also promoted by the cover, designed by Hanover-based artist Anna Abramovich, which, as a pentagon independent of the music, is a work of art in itself.
Evelyn Kryger’s fourth album III is arguably one of the most complete musical gems of recent years. This album is not simply a studio production, but a performance in the very best sense. Without wanting to engage in further name-dropping here, it need not fear comparison with the very great concept albums of rock and jazz history. If we want to change the cultural playing field at this point, then with III, Evelyn Kryger has qualified for the Champions League.